Äpfel aus Nachbars Garten


Einen passenden Spitznamen haben sie ihm verpasst, dem Kleinen mit dem keck zur Seite gedrehten Kappenschirm auf dem verschwitzten rotblonden Schopf. Er ist ein Lausebengel, wie er im Buche steht – klein, kernig, pausbäckig, stupsnasig, quirlig, schlagfertig, gewitzt und immer auf Achse, immer in Bewegung. Stillsitzen fällt ihm schwer. Am liebsten ist er draußen und entdeckt die Welt.


Stefan haben die Eltern ihn getauft, aber sein Spitzname hat sich in kürzester Zeit überall eingebürgert. Niemand weiß, wer ihn zuerst so nannte, aber er ist bekannt wie ein bunter Hund in der ganzen Nachbarschaft, und fast alle mögen ihn. Manchen ist er ein bisschen zu frech, aber er kommt mit allen zurecht.

He, Sportie!“ rufen sie ihm zu, wenn er wie üblich eilig vorbeirennt. Er kickt Steine, den Fußball, eine verbeulte Bierdose, einfach alles, was ihm vor die Füße kommt. An Geländern probt er den Aufschwung und rutscht herunter. Bäume erklettert er wieselflink und schafft es problemlos, über Zäune und Mäuerchen zu springen, und in der Schule beim Turnen ist er ein As. Über Ungerechtigkeiten kann er sich grün und blau ärgern und legt sich schon mal mit Älteren und Stärkeren an – mit Folgen, die sich meist in seinem Gesicht mit einem blauen Auge oder einer aufgeschundenen Nase abzeichnen. Er ist ein wahres Energiebündel und ständig auf der Suche nach Abenteuern.


Im Moment allerdings steht er still und dreht nachdenklich den Apfel, den er gerade aus Nachbars Garten gemaust hat, in den Händen. Soll er, oder soll er nicht? „Unrecht’ Gut gedeiht nicht“, hat seine Mutter ihm erklärt. Stehlen ist nicht erlaubt. Sein schlechtes Gewissen verdirbt ihm den Appetit auf den bestimmt saftig süßen Apfel. Wie schön er ist, vollkommen rund, mit einer geröteten Seite, die ihn noch verheißungsvoller erscheinen lässt. Aber er hat ihn gestohlen!


Er erinnert sich an die Geschichte von Robin Hood, die er neulich im Fernsehen ansehen durfte. Der hat auch gestohlen, aber das Diebesgut dann an die Armen verteilt. Das ist die Lösung, denn wegwerfen wäre ja auch eine Sünde.


Familie Clever von nebenan fällt ihm ein. Der Vater ist arbeitslos, und sie bringen die vier Kinder nur mühsam über die Runden. Fritz, der in seine Klasse geht, hat oft kein Frühstück mit, und Sportie hat schon ab und zu sein Brot mit ihm geteilt. Er überlegt: Äpfel im Geschäft sind teuer. Er hat aber nur einen Apfel - viel zu wenig für eine ganze Familie. Kurz entschlossen steckt er die Frucht zu einem Schneckenhaus, einem Stückchen Schnur, einem Kaugummi und einer gefundenen Glasmurmel in seine Jogginghosentasche, atmet einmal tief durch und klingelt beherzt beim Besitzer des Apfelbaums. Herr Höllerich öffnet erstaunt die Haustür und sieht Sportie fragend an.

Na, Sportie – worum geht’s denn?“

Tag, Herr Höllerich! Ich hab’ da im Garten bei Ihnen so schöne Äpfel gesehen, und die Clevers können sich im Moment so was bestimmt nicht leisten. Könnten Sie denen nicht ein paar spendieren?“

Na, das finde ich ja toll, dass du Dir darüber Gedanken machst! Eigentlich traurig, dass ich nicht von selber auf die Idee gekommen bin. Dann komm mal mit – wir werden gleich eine Tüte voll abpflücken, und du sollst natürlich auch welche haben!“, meint Herr Höllerich spontan.


Im Garten hebt Herr Höllerich Sportie auf seine Schultern. So erreicht er mühelos die unteren, üppig mit Äpfeln besetzten Äste.

Nimm nur die mit den roten Bäckchen, die sind schon reif.“

Sportie dreht Frucht um Frucht ab und reicht sie Herrn Höllerich, der sie in einer Plastiktüte versenkt.

Nun ist’s genug, der Sack ist voll!“, meint Herr Höllerich und setzt Sportie wieder ab, nimmt noch drei Äpfel vom Baum und drückt sie ihm in die aufgehaltenen Hände.

Komm, jetzt gehen wir zu Clevers und liefern die Äpfel ab!“


Sie läuten an Clevers Tür. Herr Höllerich grüßt und reicht der überraschten Frau Clever die Tüte.

Der junge Mann hier hatte den Einfall, Ihnen Äpfel anzubieten – ich weiß nämlich nicht, wohin ich damit soll. Wir zwei können soviel gar nicht essen. Sie können auch gerne vorbei kommen und sich wieder welche holen – wäre schade, wenn sie vergammeln.“

Frau Clever bedankt sich mehrmals, offensichtlich erfreut über den unverhofften Segen, und Sportie hat im Bauch ein gutes, zufriedenes Gefühl. Sie verabschieden sich, und Herr Höllerich wiederholt nochmals sein Angebot.


Auf dem Rückweg zu Herr Höllerichs Haus erwähnt dieser noch so ganz nebenbei:

Hör mal, Sportie – wenn Du wieder mal Lust auf Äpfel hast, kommst Du einfach durch die Haustür, ja?“

Sportie senkt beschämt den Kopf.

Herr Höllerich klopft begütigend Sporties Schulter. Sie verstehen sich auch ohne weitere Worte.


©  Barbara6491

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